12 February 2010

Grundzüge der Geschichte für höhere Lehranstalten


Meine Wertung

Der oberste deutsche Geschichtslehrer und seine Ängste vor der "Überfremdung"

Möchte man verstehen, wie die Nazigrößen "getickt" haben, dann kann es nicht schaden, sich mit dem Geschichtsbild zu befassen, das ihnen wenige Jahre zuvor auf den höheren Lehranstalten der Weimarer Republik vermittelt wurde. Zwangsläufig kommt man dann zu Friedrich Neubauer, der zwischen 1913 und 1923 der - erste - Vorsitzende des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands und damit quasi der oberste deutsche Geschichtslehrer war. Sehen wir uns zunächst die letzte Seite seines 1925 veröffentlichten Lehrbuches an:

Der fortschreitende wirtschaftliche Niedergang unseres Volkes zeigt sich in der starken Verminderung des Verbrauchs an Fleisch, Zucker, Wolle, Baumwolle, Eisen u. a. Dingen; in der Unterernährung, dem Mangel, der Wohnungsnot, der entsetzlich zunehmenden Zahl der Selbstmorde aus Hunger, der sehr großen Zahl der Arbeitslosen (Dezember 1923 waren es 3½ Millionen nebst ihren Familien, zu denen noch Millionen von "Kurzarbeitern" kamen; nachher sank die Zahl, blieb aber immer noch groß); der "Überfremdung" unseres Besitzes an Grundstücken, Fabriken, Banken, Unternehmungen jeder Art; der verderblichen Zunahme von Tuberkulose und anderen Volkskrankheiten. Zu alledem tritt der sittliche Niedergang unseres einst durch Ordnung, Pflichttreue und Arbeitsamkeit hervorragenden Volkes; die weitverbreitete Mißachtung des Gesetzes; der in weiten Schichten sich offenbarende Mangel an Staatsgesinnung, Gemeinschaftsgefühl, Verantwortungsbewußtsein.

Was mit "Überfremdung" gemeint war, wird spätestens dann klar, wenn wir uns vor Augen halten, dass der deutsche Akademikertag 1925, also im Erscheinungsjahr des Buches von Neubauer, folgenden Antrag einstimmig annahm:

Der Überfremdung der deutschen Hochschulen durch jüdische Lehrkräfte und Studierende ist ein Riegel vorzuschieben. Weitere Lehrer jüdischer Abstammung sind nicht mehr zu berufen. Für die Studierenden ist der Numerus Clausus einzuführen.

Aber Neubauer macht sich nicht nur Sorgen um die "Überfremdung" im eigenen Land; an anderer Stelle heißt es:

Eine Frage von besonderer Bedeutung ist die Einwanderung, auf die das Land angewiesen ist. Während die deutsche, meist hochwertige Einwanderung sehr gering geworden ist, suchten in den letzten Jahrzehnten große, kulturell viel tiefer stehende Menschenmengen aus Osteuropa (Slawen, Ostjuden) und dem romanischen Südeuropa die Vereinigten Staaten auf.

Werden diese Zitate dem Buch und der Person Friedrich Neubauer wirklich gerecht? Nein, denn einerseits konnte er die Dramatik der weiteren Entwicklung nicht voraussehen, andererseits waren seine Ängste vor der "Überfremdung" wohl an der Tagesordnung. Wenn es über ihn heißt, "er ermunterte die Schüler, freie Arbeiten vorzulegen, die im Abitur berücksichtigt wurden", dann ahnen wir vielleicht, wie reaktionär die übrige Lehrerschaft damals war. Bei Wikipedia erfahren wir Näheres über den Verband der Geschichtslehrer Deutschlands, der bis heute fortbesteht und - nach eigenen Angaben - 80.000 Geschichtslehrer aller Schularten und Schulstufen vertritt:

In der Weimarer Republik verhielt sich die Mehrheit des Verbandes demokratiekritisch und stand den Deutschnationalen nahe.

"Demokratiekritisch" ist vermutlich die beschönigende Umschreibung für antidemokratisch und erzreaktionär. Gerade weil dieses Lehrbuch die Jugend der Weimarer Republik nicht in eine friedliche und humane Zukunft begleitet hat, ist es für den heutigen Leser interessant, bietet es doch ein gutes Beispiel für eine tendenziöse Geschichtspädagogik und deren Folgen.

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