05 May 2007

Sonnenfinsternis

Meine Wertung
1.000.000 : 1.000.000 = -1.500.002 Menschen

"Vielleicht werden sie [die Genossen der Zukunft, Anm. des Rezensenten] lehren, daß das Prinzip falsch ist, das besagt, der Mensch sei der Quotient aus einer Million dividiert durch eine Million, und statt dessen eine neue Art der Arithmetik einführen, die auf Multiplikation beruht; aus der Verschmelzung von einer Million Individuen zu einer neuen Einheit, die, nicht länger eine amorphe Masse, ihr eigenes Bewußtsein, eine neue Persönlichkeit entwickeln wird, mit einem millionenfach verstärkten 'ozeanischen Gefühl'."

denkt Nicolas Salmanowitsch Rubaschow kurz vor seiner Hinrichtung. Er steht, als Figur, stellvertretend für Karl Radek, Nikolai Bucharin und Leo Trotzki in dem Roman "Sonnenfinsternis" von Arthur Koestler.
Er tritt 1936, zu der Zeit der ersten stalinistischen Säuberungswelle, seinem Untersuchungsrichter Iwanoff gegenüber. Dieser hält Rubaschow vor:

"Ich hasse ideologische Unklarheit. Im Grunde genommen gibt es nur zwei mögliche Theorien der Moral, und sie verhalten sich wie entgegengesetzte Pole. Die eine ist christlich-humanistisch, erklärt das Individuum für sakrosankt und behauptet, daß mathematische Regeln nicht auf menschliche Einheiten anwendbar sind. Die andere geht von dem Grundprinzip aus, daß das Kollektivziel alle Mittel heiligt, und erlaubt nicht nur, sondern gebietet, daß das Individuum in jeder Hinsicht der Gemeinschaft unterstellt und wenn nötig geopfert wird, als Versuchskaninchen, als Opferlamm und auf jede andere erforderliche Art. Die erste Auffassung können wir die Antivivisektionsmoral nennen, die zweite die Provivisektionsmoral. Wirrköpfe und Dilettanten versuchen stets, die beiden Auffassungen irgendwie zu vereinbaren; in praxi ist dies unmöglich. Wem Macht und Verantwortung aufgebürdet sind, der entdeckt bei der ersten Gelegenheit, wenn es eine praktische Entscheidung zu treffen gilt, daß er zu wählen hat; und die Logik der Ereignisse treibt ihn unaufhaltsam der zweiten Alternative zu."

Ich will hier nicht die detaillierte Antwort von Rubaschow vorwegnehmen; nur so viel:

Iwanoff fragt sich natürlich nicht, wer ihm und seinen Genossen diese historische "Macht und Verantwortung aufgebürdet" haben soll, für wie lange, wodurch, u. ä. Es ist daher nur konsequent, daß er Vivisektionen, d. h. Eingriffe am lebenden Körper zur wissenschaftlichen Forschung, für gerechtfertigt hält, und zwar unter stalinistischer Narkose (=Doktrin), völlig unabhängig davon, ob und wie viele Patienten (=Bürger) dabei sterben. Neben den "Vivisektionsopfern" des Stalinismus (1,5 Millionen Menschen allein zwischen September 1936 und Dezember 1938, lt. Wikipedia), werden am Schluß auch Rubaschow und Iwanoff hingerichtet. Mitleid? Nein, denn es sterben eher ideologische Stereotype als leibhaftige Menschen (formaler Kritikpunkt) und selbst deren Henker gehen 1956 unter Chruschtschow und 1989 unter Gorbatschow endlich unter.

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