27 July 2013

Nach Sibirien verbannt - Sibirische Erinnerungen


 
Meine Wertung
Seit Zarenzeiten haben Deportationen nach Sibirien Tradition!

Im Juni 1941 wurden Julius Wolfenhaut und Sidi Kassner von den aus der Nordbukowina abziehenden Sowjets von Czernowitz nach Sibirien deportiert. Vermutlich wurden sie in einen der überfüllten Viehwaggons des gleichen Zuges hineingepfercht, um viele Tage später - in der Zwischenzeit war der "Große Vaterländische Krieg" am 22.06.1941 ausgebrochen - in Sibirien anzukommen. Für Julius Wolfenhaut ging die Reise von Tomsk aus, über den Tom, den Ob und den Wassjugan nach Stalinka (N59.1500, E77.6667); für Sidi Kassner von Nowosibirsk aus, über die gleichen Nebenflüsse des Ob, nach Scherstobitowo (N57.226667, E78.858056). Für beide beginnt ihre jahrzehntelange Verbannung ans Ende der Welt, in der russischen Taiga, dem alles beherrschenden Hunger, dem strengen Frost und den blutrünstigen Mücken ausgesetzt. Beide verlieren ihre nächsten Angehörigen, die älter und daher den Strapazen nicht gewachsen sind. Beide überleben, werden rehabilitiert und gelangen auf Umwegen nach Tomsk, von wo sie in die lang ersehnte Freiheit nach Israel bzw. Deutschland auswandern. Das allein wären schon gute Gründe, die Erinnerungsbände parallel zu lesen und auf sich wirken zu lassen.

Wichtiger jedoch als die Gemeinsamkeiten, sind die Unterschiede zwischen den beiden Bänden. Während Julius Wolfenhaut keinen Hehl aus seiner Verachtung für die "NKWD-Schergen" und das gesamte bolschewistische System macht, beschreibt Sidi Kassner zwar weniger detailreich, dafür aber mit buchhalterischer Präzision ihre Erlebnisse. Bei Julius Wolfenhaut ist die Verbannung in erster Linie eine unverschuldete persönliche Katastrophe und ein ständiger Überlebenskampf; das ist sie bei Sidi Kassner zwar auch, aber doch gelingt es ihr mehrfach, sich von der strikt subjektiven Perspektive zu lösen und politische Einflüsse sowie nichtjüdische Opfer gelten zu lassen. Wer aber will, angesichts des unermesslichen Leides, welches die beiden Protagonisten - und unzählige andere - erfahren haben, fair beurteilen, ob man eher mit heißem Herzen oder mit kaltem Blut an das Trauma der Verbannung herangehen sollte? Ich jedenfalls nicht!

Was ich aber beiden Autoren gleichermaßen gewünscht hätte, wäre ein sorgfältigeres Lektorat gewesen. Bei Julius Wolfenhaut wird der Untergang der "Struma" erwähnt (S. 62). Das Schiff wurde jedoch nicht, wie behauptet, "von einem deutschen U-Boot torpediert", sondern von dem sowjetischen U-Boot Щ-213 versenkt; 762 jüdische Palästina-Flüchtlinge und vermutlich 6 Besatzungsmitglieder fanden dabei den Tod. Bei Sidi Kassner lesen wir in einer Fußnote über Transnistrien (Nr. 11, S. 30), dass "seit September 1942 und bis zur Befreiung 1944 ca. 150.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Bessarabien und der Bukowina deportiert worden waren". Richtig ist aber, dass die Deportationen aus der Südbukowina bereits am 15. September 1941 begannen. Am 11. Oktober 1941 wurde das Ghetto in Cernowitz eingerichtet und die Deportationen nach Transnistrien setzten unmittelbar danach ein.

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